Dr. Heinrich Kopp verschaffte sich einen Eindruck von den Geschehnissen
In der Epoche der Weimarer Republik (1919–1933) war Hannover eine Großstadt in Aufbruchstimmung. Und gerade in dieser Zeit lebte und mordete Friedrich „Fritz“ Haarmann in einer kleinen Dachkammer an der „Roten Reihe“, einem Straßenzug in der Calenberger Neustadt.
Von Matthias Blazek
Der dringend tatverdächtige Kaufmann Fritz Haarmann aus Hannover gelangte am 23. Juni 1924 in Untersuchungshaft und wurde bis zum 16. August im Gerichtsgefängnis an der Leonhardtstraße 1 in Hannover vernommen. Ab dem 29. Juni gab er schrittweise zu, seit 1918 zahlreiche junge Männer getötet und deren Leichen zerstückelt und beseitigt zu haben.
Auf Weisung des preußischen Innenministers Carl Severing (SPD, Foto rechts) wurden drei Tage nach dem ersten Geständnis der Jurist und Chef des Staatsschutzes und der Kriminalpolizei von Berlin, Dr. Bernhard Weiß, Kriminalkommissar Dr. Heinrich Kopp und ein Sachbearbeiter für Homosexuelle nach Hannover beordert, um die Ermittlungsarbeit der dortigen Polizei zu überprüfen und zu unterstützen.
Der damals wohlbekannte Kriminalinspektor Dr. Heinrich Kopp (1871–1941) war bis 1926 Leiter der Abteilung „B II 5“ (Sexualstraftaten) bei der Berliner Polizei, die Paragraph 175 des Reichsstrafgesetzbuches (Widernatürliche Unzucht) und Straftaten, die mit Homosexuellen in Zusammenhang standen, bearbeitete, also auch Erpressungen an Homosexuellen. Gut befreundet war er mit Dr. Magnus Hirschfeld (1868–1935), dem wichtigsten Pionier der Sexualwissenschaft, mit dem er 1922 verschiedene Vorträge für die städtische Jugendhilfe über Homosexualität gehalten hatte. (Ferdinand, Ursula; Pretzel, Andreas; Seeck, Andreas (Hrsg.), Verqueere Wissenschaft? – Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart, Berlin, Hamburg, Münster 1998, S. 336). Kopp wurde 1933 als stellvertretender Kripochef und Oberregierungsrat von den Nazis entlassen.
Nach den Erinnerungen von Hermann Lange* reiste die Delegation noch am gleichen Abend, verbunden mit lobenden Worten für die Arbeit der hannoverschen Kriminalpolizei, wieder ab:
Das Innenministerium in Berlin entsandte 3 Tage nach dem ersten Geständnis eine Sonderkommission zur Prüfung der Sachlage nach Hannover. Der Polizeivizepräsident Weiß (Foto links), ein Kriminalkommissar und ein Sachbearbeiter für Homosexuelle erschienen. Sie ließen sich von mir eine Stunde berichten, sahen die Akten einen halben Tag durch und verabschiedeten sich Abends mit dem Bemerken: „Besser hätten die Berliner den Fall auch nicht bearbeiten können.“ Trotzdem hätte Berlin aber die weitere Bearbeitung übernommen, wenn ich nicht zufällig erst kürzlich nach Hannover gekommen wäre, weshalb ich als neutraler Bearbeiter gelten könne, von dem nicht zu erwarten sei, daß er zutage tretende Mängel früherer Sachbearbeiter betreffs Haarmann vertuschen werde. Das war die ministerielle Inspizierung.
Kriminalkommissar Dr. Heinrich Kopp (Foto rechts) hielt in Berlin vor geladenen Pressevertretern in Berlin einen Vortrag über das Ergebnis seiner Nachforschungen. Wie die „T.-U.“ mitteilte, führte Kopp unter anderem Folgendes aus (Bericht in der „Celleschen Zeitung“ vom 22. Juli 1924):
Man muß um ein paar Jahrhunderte zurückgreifen, um einen ähnlichen Fall, wie die Lustmorde Haarmanns, in der Kriminalgeschichte zu finden. Eine Erklärung dafür, daß dieser Fall so lange unaufgeklärt blieb, liegt in der komplizierten Persönlichkeit Haarmanns. Der erste Eindruck, den man von ihm gewinnt, ist nicht ungünstig. Alsbald erkennt man, daß man es mit einem Mann aus der Hefe des Volkes zu tun hat, einem äußerst geriebenen und pfiffigen, wenn auch völlig ungebildeten Burschen. Mit einer fast weiblichen Geschicklichkeit und ungewöhnlichen Verstellungsgabe hat er es verstanden, seine Umgebung über seinen Charakter und sein Treiben zu täuschen. Sogar die Nachbarn haben nichts von seinem furchtbaren, nächtlichen Treiben bemerkt. Nur seine Wirtin hat ihn bei der Polizei wegen der häufigen nächtlichen Besuche von Knaben angezeigt und versucht, ihn mit allen Mitteln loszuwerden. Polizeiliche Haussuchungen ergaben kein belastendes Material, die Wirtin wurde auf den gesetzlich vorgeschriebenen Weg der Privatklage verwiesen.
Fälschlicherweise hat die Oeffentlichkeit die Lustmorde Haarmanns seiner homosexuellen Veranlagung zur Last gelegt. Mit demselben Rechte könnte man die Morde Großmanns den Normalempfindenden in die Schuhe schieben. Das treibende Moment bei Haarmann war der Sadismus. Da Haarmann bis zu seinem 35. Lebensjahre keine Morde begangen hat, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die sexuelle Potenz bei ihm in diesem Alter aufhörte und die noch vorhandene sexuelle Lust in einer anderen Richtung – in sadistischer Betätigung – Entspannung suchte. Haarmann sucht den Sachverhalt persönlich so darzustellen, als ob es sich um einen Zustand der Besinnungslosigkeit gehandelt hätte. Er erzählt, daß er die von ihm mitgenommenen Knaben am Morgen tot in seinem Bett gefunden hätte mit Bißwunden am Halse. Er müsse die Knaben in einem schlafähnlichen Zustande zu Tode gebissen haben. Mit dieser Schilderung sucht Haarmann sehr geschickt den Weg zu beschreiten, auf dem ihn der § 51 von der Strafe befreit. Die hannoversche Polizei steht dagegen auf dem Standpunkt, daß Haarmann seine Opfer nicht gebissen, sondern stranguliert hat.
Eine Hilfe hat Haarmann bei seinen Mordtaten nicht gehabt. Die Beziehungen zu seinem Gehilfen Granz (sic!) sind noch nicht restlos aufgeklärt, doch hat es den Anschein, als ob Granz um die Morde Haarmanns nicht gewußt hat. Er hat erwiesenermaßen mit Fleisch gehandelt. Er nennt auch einen Schlachter Karl, der ihm das Fleisch geliefert haben soll, doch weigert er sich, nähere Angaben über ihn zu machen. Die Untersuchung der Polizei in dieser Richtung ist noch nicht abgeschlossen. 14 Opfer hat Haarmann bisher eingestanden, doch die Befürchtung liegt vor, daß es weit mehr gewesen sind.
Gegen die Polizei ist vielfach der Vorwurf erhoben worden, sie hätte Haarmann wie einen Polizeiagenten benutzt und bezahlt. Haarmann ist tatsächlich Polizeispitzel gewesen, aber keineswegs Angestellter der Polizei. Er war Zuträger für eine Reihe von Kriminalbeamten, die ihre Mitarbeiter naturgemäß in den Kreisen suchen, die mit der Verbrecherwelt in Berührung kommen. Denn anständige Leute wissen meist nichts zu erzählen, was für die Polizei von Wert ist. Den Polizeiausweis hat er von sich selbst ausgestellt, er strotzt von orthographischen Fehlern. Von den ermordeten Knaben ist eine Reihe als vermißt der Polizei gemeldet worden. Da bei den Anzeigen, die von den Eltern gemacht wurden, die Angabe des homosexuellen der Knaben fehlte, so wies nichts auf die Spuren Haarmanns hin, der der Polizei als homosexuell bekannt war.
Dr. Kopp habe seine Ausführungen mit dem Hinweis geschlossen, dass ein Urteil über das Verhalten der hannoverschen Polizei nicht vor Abschluss des schwebenden Verfahrens gefällt werden könne. Bisher seien vier Beamte, ein Kriminalkommissar und drei Assistenten, ihres Dienstes enthoben worden, die sich Nachlässigkeiten im Falle Haarmann hätten zuschulden kommen lassen.
- Adolf Hermann Lange (1877–1962) wurde nach seiner durch die damalige französische Besatzungsbehörde bewirkten Ausweisung aus Bochum zum 1. Januar 1924 vom Ministerium in die frei gewordene Stelle des Kriminalinspektors beim Polizeipräsidium in Hannover eingewiesen und befördert. Am 16. April 1933 wurde Lange von Hannover nach Bielefeld versetzt und ging dann nach Magdeburg, wo er 1937 in Pension ging. Zuletzt lebte Hermann Lange im Altenheim in Regensburg, Rilkestraße 8, wo er 1961 seine Erinnerungen zum Fall Haarmann zu Papier brachte (Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hann. 87 Hann. Acc. 116/84 Nr. 11, Blatt 15 ff.).
Foto oben rechts: Innenminister Carl Severing
Foto Mitte links: Dr. Bernhard Weiß
Foto unten rechts: Dr. Heinrich Kopp
Magnus Hirschfeld