Rückstand pleistozäner Vergletscherungen
Vor 85 Jahren stellte der Allgemeine Deutsche Jagdschutz-Verein, Bezirksverein Hannover, im Becklinger Holz einen Gedenkstein auf. An dieser Stelle wurde im Jahre 1872 der vorerst letzte Wolf in Nordwestdeutschland vom Förster aus Wardböhmen zur Strecke gebracht.
Heute liegt dieser Wald auf dem weiten Truppenübungsplatzgelände, wohin der Wolf mittlerweile zurückgekehrt ist und geduldet wird. Damals wurde er nur als Nahrungskonkurrent des Menschen gesehen und daher mit aller Intensität bejagt.
Sein Aufenthalt im Becklinger Holz währte nur kurz und wurde ihm zum Verhängnis. Es war bereits ein geschichtsträchtiger Ort, der durch den Abschuss des Wolfes noch einmal an Bedeutung gewann und in der Jägerschaft wegen dieses Ereignisses weitläufig bekannt ist.
Eigentlich ist es nur ein Wald gewesen, in den sich der Wolf hineinverirrt hatte, und über Wälder lohnt es meistens nicht, einen geschichtlichen Beitrag zu schreiben.
Das Becklinger Holz zwischen Bergen und Soltau bildet mit dem 149,6 Meter hohen Falkenberg die höchste Erhebung der Südheide – ein Rückstand der pleistozänen Vergletscherungen. Ulrich Rein, der sich 1937 in einem Aufsatz mit der Warthe-Vereisung in der Lüneburger Heide (Beitrag zur Gliederung des nordwestdeutschen Diluviums) befasste, schrieb (S. 20-23): „Das Wartheeis stößt kurzfristig von Norden nach Süden bis an das Becklinger Holz und den Lüß vor, paßt sich dabei der vorgefundenen Morphologie eng an, hinterläßt aber beim Abschmelzen nur wenige Ablagerungen (als dünne Decken).“
Dazu der 7. Jahresbericht des Niedersächsischen geologischen Vereins in Hannover (1914): „Weiter südlich folgen zwischen Soltau und Bergen bei Celle das Becklinger Holz mit Harkenberg, Aschberg und Falkenberg als hervorragendsten Punkten. Diese Endmoränen stehen nach Osten durch die – eingeebnete – Hochfläche des Lüß mit dem Bergzug von Suderburg-Wieren (den Wierer Bergen) in loser Verbindung.“
In den „Niederdeutschen Studien“ heißt es 1970: „Bei Bleckmar und Blecklingen (sic!) gibt es eisenzeitliche Siedlungen. Das Becklinger Holz überzieht den Hingstberg, in dessen Nähe wieder ein Schimmelberg. Nördlich davon erstreckt sich Ahrends Helweg. In der Nähe liegen hier der Hunnenborn; in Bleckmar die Hölle, so schon 1666, 1587 Hölremen; der Höllenberg, die Holriethe. Bei Wardböhmen der Hellberg und der Goldberg.“
Ein Kranz von wüsten Einzelhöfen schließt sich nach den Flurnamenrecherchen von Paul Alpers und Friedrich Barenscheer (1952) um das Becklinger Holz: „Am nördlichsten liegt der Horsthof (Becklingen), dann folgt der Heidhof (Wardböhmen), noch südlicher liegen der Holtings- und Worwochshof (Bleckmar, Hasselhorst).“
Diese wüsten Höfe sind zum Teil Zeugen mittelalterlicher Geschehnisse zu Zeiten des Loingau. Der Loingau erstreckte sich – wie aus der von Bernhard Engelke seiner Arbeit „Gaue, Gaukirchen, Gogerichte, Grafschaften und Grafen (Freigerichte)“ (Oldenburg 1926) beigegebenen Karte ersichtlich – im Norden etwa bis Soltau, im Osten etwa bis Hermannsburg, im Süden etwa bis Brelingen und im Westen in der Linie etwa bis Husum-Bolsehle. Engelke erläutert, dass das Freigericht bei Bergen einen abgesonderten Teil der Grafschaft Wölpe bildete, das im 15. und 16. Jahrhundert auf dem Heidhof hinter dem Becklinger Holz abgehalten wurde, wo die Freien aus den Vogteien Fallingbostel, Bergen und Hermannsburg jährlich zum Freiding erschienen, und das so genannte „Vehmgericht zur Wietzemühle“ in Wietze, das sich über das Kirchspiel Winsen an der Aller erstreckte.
Da das Becklinger Holz von dem südöstlich davon gelegenen Bergen nicht weit entfernt ist, so ist jenes Gericht wahrscheinlich dasselbe wie das Bergener Freigericht gewesen. Die Frei- oder Femgerichte waren im Allgemeinen auf Westfalen, das Land der „roten Erde“, beschränkt, unterstanden unmittelbar dem Kaiser und waren dazu bestimmt, denjenigen Recht zu verschaffen, die es bei den ordentlichen Landgerichten nicht finden konnten. Angeblich waren diese heimlichen oder freien Gerichte von Karl dem Großen eingesetzt, um abtrünnige Sachsen zu bestrafen. Ihr Arm reichte weit über Westfalen hinaus.
Nach dem uns erhaltenen Verzeichnis der Einnahmen auf dem Schloss Celle unter dem herzoglichen Vogt Brendeke vom 7. April 1378 bis 9. März 1379 fanden in dieser Zeit mehrmals Godinge statt in Soltau, Dorfmark und Winsen sowie ein Goding und Freiding in Bergen. Der Begriff Goding rührt von dem Wort Go = mittelalterlicher Gerichtsbezirk her, das Wort Freiding lässt den Rückschluss zu, dass jenes altes Volksgericht auch für Bauern mit freiem, keinem Grundherrn zinspflichtigen Besitz gehegt wurde. 1379 war in dem von Hermann Sudendorf 1865 veröffentlichten Verzeichnis vom „goding vnde vryding to Bergen“ die Rede. Für die Zeit um 1440 ist ein Femegericht auf dem Heidhof überliefert, „das für die Vogteien Fallingbostel, Bergen und Hermannsburg zuständig war“ (1448 „Frigending to Bergen“). Im Geldregister von 1469 findet sich dieser Eintrag aus Anlass einer Dienstreise des Vogtes: „alse ik … veme tom heythove und tor witzemolen hebbe geholden“ (NLA-HStA Hannover Celle Br. 61 II 38 Nr. 12, insbesondere Vol. III und V).
Der Heidhof lag nach späterer Überlieferung hinter dem Becklinger Holz, am Dreipunkt der Vogteien Bergen, Fallingbostel und Hermannsburg: Dort „sei man zusammengekommen, habe sich in der Reihe ordentlich gesetzet, und von wem eine Übeltat bewußt, der sei mit einem Staken vor die Schienbeine geschlagen und nach Befinden gar an einen Baum gehängt“ – ein Gericht also ganz in der Form der westfälischen Feme.
Über die Eigentümlichkeit der Ladung erfahren wir Näheres aus den im Stadtarchiv Celle nachgelassenen „Beiträgen zur Heimatgeschichte“:
Auch im Amte Bergen bei Celle hat man Fehmgericht gehalten für die Leute aus Fallingbostel, Bergen und Hermannsburg. Der Gerichtsplatz liegt nördlich vom Falkenberge und an der Südecke des Becklinger Holzes.
Mancher Bösewicht, der durch Bestechung oder durch Verwendung seiner Freunde den Händen der Gerechtigkeit entgangen zu sein glaubte, empfing durch dies unbestechliche, heimliche Gericht doch seinen verdienten Lohn. Nachts lud der Freifrohn den Verbrecher, indem er den Vorladezettel an seine Haustür heftete, aus dem Türpfosten drei Späne schnitt und dann dreimal gewaltig mit dem Hammer gegen die Tür schlug.
Bei diesen Femegerichten soll der Schandpfahl in Anwendung gekommen sein. Der Heidhof selbst soll nach der Überlieferung in der Hildesheimer Stiftsfehde 1519 zerstört worden sein.
Dass je nach Befinden Diebe oder andere Straftäter gar nach gehaltenem Standrecht an einem Baum aufgehängt wurden, berichtet die früher im Archiv des Amts Bergen abgelegte „Topographia der Amtsvoigtei Bergen“, eine Amtsbeschreibung des Amtsvogts Christian Römling vom 21. März 1651: „Hinter dem Bekelnholze (= Becklinger Holz) ist ein Heinbuch- und Eichenholz, darinnen soll vor 100 Jahren etwa ein Hof gestanden sein, der Heithoff genannt, an welchem Orte die Voigtei Fallingbostel, Bargen und Hermannsburg jährlich zusammenkommen, und sich in die Reihe ordentlich gesetzt. Hatt man nun einen Diebstall oder Uebelthat von einem gewußt, derselbe ist mit einem Stecken vor die Schienbein geschlagen und nach Befinden gar an einem Baume nach gehaltenem Standrecht gehenket worden.“
Die Freiengerichte waren auch Thema in der „Dritten Sitzung der III. Section“, die am 19. September 1856 in Hildesheim stattfand (abgedruckt im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, das 1852 ins Leben gerufen worden war). Zur (19.) Frage, welche Volksgerichte (Go- und Landgerichte) und welche Markengerichte des Fürstentums Lüneburg bis jetzt bekannt geworden seien, nannte der fachkundige Staatsminister Wilhelm Freiherr von Hammerstein (1808-1872) an Gogerichten: „das Landgericht zu Uelzen, das Gohgericht thor olden Brügge to Lüneborg, das Gohgericht zu Salzhausen, das Gohgericht zu Grevenla bei Fallersleben, das Gericht bei Celle, ein Gericht auf dem Heidhofe hinter dem becklinger Holze, Amts Bergen, für die Vogteien Fallingbostel, Bergen und Hermannsburg, die Go to Elbstorf, die Go to Schmalke, deren Bezirk noch nicht ermittelt sei, vielleicht Eimbke und Schmarbeck umfasse, das Gohr und Holzgericht, zu Wahlingen, das Freigericht zu Ilten …“
Das Go- und Freigericht wurde später als Holting (Holzgericht) in seiner Zuständigkeit eingeengt. Friedrich Grütter schreibt dazu in seinem Beitrag „Markgenossenschaften und Holzgerichte im Loingau“ (Hannoversche Geschichtsblätter 1899): „Auf dem s. g. Heidhofe hinter dem Becklinger Holze, wo die Beamten der hier zusammenstoßenden Amtsvoigteien Fallingbostel, Hermannsburg, Bergen und Soltau vordem jährlich ein peinlich Gericht gehalten, ist ein Holzgericht in Uebung geblieben, welches bis in die neueste Zeit hinein sich erhalten hat.“ Noch konkreter wird Hans Verhey 1935 („Waldmark und Holtingsleute in Niedersachsen im Lichte der Volkskunde“): „Das Recht im Volke war von Bräuchen umgeben. Das Gericht wurde zum Feste. Mit diesem verbunden bleibt es vereinzelt bis in die neuer Zeit üblich. So wird auf dem Heidhofe beim Becklinger Holze im Amte Bergen jährlich am Tage nach Pfingsten das Heidhofsfest gefeiert, wobei abgerechnet wird zum Besten der Forst. Unter den Strafen fällt auf, daß der, der während der Versammlung auf den Tisch ‚tippt’ eine Buße zu zahlen hat. Dieses ‚tippen’ wird so stark gewesen sein, daß es als Ruhestörung empfunden wurde.“
Zwischen dem Falkenberg und Wilsede hatte man zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen „bedeutenden Durchhau“ durch das Becklinger Holz für erforderlich gehalten. Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855) blickte später zurück: „Wenn ich alle größeren und kleineren Durchhaue aus den Jahren 1821-1824 zusammenzähle, von solchen, wo vielleicht ein Dutzend Bäume gefället sind, bis zu den größten, so mögen etwa 16 oder 17 Durchhaue vorgekommen seyn. Der allergrößte, nach der Ausdehnung, war im Becklinger Holz unweit der Straße von Bergen nach Soltau.“ Am 6. August 1822 schrieb Gauß in Bergen an seinen Freund Heinrich Christian Schumacher (1780-1850): „Der Durchhau durch das große Becklinger Holz vom Falkenberg nach Wilsede ist glücklich vollendet, und der bei Wilsede im May aufgepflanzte Signalbaum zeigt sich mitten in der gemachten schmalen Öffnung. Dieser glückliche Erfolg gereicht um so mehr zu meiner Satisfaction, da die Bestimmung der Richtung, nach welcher ich durchhauen ließ, auf eine künstliche Combination verschiedenartiger und unvollkommener Beobachtungen gegründet war.“
Heute wird das ganze Gebiet von einförmigen Kiefernforsten bedeckt, die im Becklinger Holz von alten Buchenbeständen durchsetzt werden. Dazu das „Hannoverische Magazin“ vom 22. Mai 1789 („Über Wiederwuchs des Eichenholzes“): „Wenn das Orpker Gehäge und das Becklinger Holz ein Raub des überziehenden Tannenholzes wird, so liegt der Grund in der Natur dieser Holzgattung, nicht darin, daß Eichen und Buchen nicht mehr wachsen wollen. (…)“
Aufgrund einer Kabinettsordre Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) wurden 1893 insgesamt 48 Quadratkilometer Moor- und Heideflächen für 1.186.813 Goldmark angekauft und für einen Truppenübungsplatz (Munster-Süd) genutzt, der mit bis zu 36.000 Mann und Pferden belegt wurde. Es war das Oldenburgische Infanterie-Regiment 91 unter Regimentskommandeur Oberst Paul von Hindenburg (1847-1934), dem späteren Reichspräsidenten, das den Platz noch im gleichen Jahr einweihte. Auf einer Fläche von 285,25 Quadratkilometern wurde dann im Zuge der Aufrüstung 1935/36 der Truppenübungsplatz Bergen geschaffen, der das Becklinger Holz umschließt. Zahlreiche Dörfer mussten damals trotz heftiger Proteste der Bevölkerung weichen. Etwa 630 Menschen wurden umgesiedelt. Am 26. April 1935 berichtete Landrat Wilhelm Heinichen (1883-1967): „Hervorheben möchte ich nur, daß die Stimmung in den von dem Truppenübungsplatz-Projekt Bergen betroffenen bäuerlichen Kreisen im allgemeinen keine gute ist, was sich darin äußert, daß immer wieder schwarze Flaggen gehißt werden.“
Im Frühjahr 1929 plante der Heimatbund Niedersachsen gemeinsam mit dem Allgemeinen Deutschen Jagdschutz-Verein, an der Stelle, wo im Becklinger Holz der vorerst letzte Wolf zur Strecke gebracht worden war, einen „Wolfsstein“ zu setzen. Er kam und trägt die Inschrift: „Am 13. Januar 1872 wurde hier der letzte Wolf in Niedersachsen erlegt.“ Zu diesem Platz auf der Höhe der langen Brandrute, die heute „Wolfsbahn“ heißt, hat man heute so ohne weiteres keinen Zutritt mehr.
Seminaroberlehrer Heinrich Brammer, der den erfolgreichen Schützen, Förster H. Grünewald aus Wardböhmen, noch kennengelernt hatte, erzählte 1939, wo der Stein hergekommen war: „Die Stelle, wo der Wolf endete, bezeichnete ein größerer Stein, aber vor zehn Jahren lieferte mein Bruder als seinen würdigen Ersatz aus seinen benachbarten Waldungen einen großen Findling.“