Die Jugend übte zuerst auf dem Grundstück Am Bohlgarten

Das Dorf Wathlingen ist eins der wenigen Dörfer des Landkreises Celle, die in der Weimarer Zeit gleich zwei Sportvereine aufwiesen. Der ältere, der MTV Wathlingen, jetzt VfL Wathlingen, wurde 1910 als Männerturnverein „Vater Jahn“ gegründet und feierte 2010 sein 100-jähriges Bestehen.

Von Matthias Blazek

Der VfL Wathlingen im Spiegel seiner Protokolle, auf 288 Seiten. Gewiss ist die Aufarbeitung der Geschichte dieses bedeutenden Sportvereins mehr als überfällig gewesen. 100 Jahre Dorfgeschichte, Sporttradition. Viele Namen sind erwähnt, viele Männer und Frauen, die sich im Verein aktiv oder passiv eingebracht haben. Bei der ausführlichen Darstellung des Gewesenen bleibt es nicht aus, dass auch für den Kreissportbund ein Standardwerk geschaffen worden ist.

Es bleibt zu hoffen, dass noch weitere Sportvereine sich zum Ziel setzen, das Vergangene nicht nur oberflächlich zu streifen. Unsere Vorfahren haben es verdient, dass wir ihre Verdienste aufzeigen.

Vereinschroniken sind immer ein Stück Ortsgeschichte, soweit sie vorhanden sind und laufend ergänzt werden. Viele Unterlagen über die Entwicklung des Vereins bis zum Jahre 1945 sind vermutlich in den Wirren der Kriegsereignisse und der Nachkriegszeit verloren gegangen. Alte Zeitungsartikel, Schulchroniken, Berichte über das 50-jährige Bestehen, die Festschriften von 1970 und 1985 und einige wenige mündliche Überlieferungen bilden die Grundlage für diesen Versuch.

1910 war Wathlingen noch ein Bauerndorf. Gemeindevorsteher war seit einem Jahr der Kötner Hans Heinrich (Spangen-)Brandes, Lehrkräfte waren 1910 Richard Meyer, Wilhelm Rengstorf, Karl Brandt, Heinrich Klie und Karl Gremmels, und seit 1909 (bis 1938) amtierte als Pastor (und somit örtlicher Schulinspektor) Friedrich Freyenhagen v. Rosenstern, Sohn des Assessors Freyenhagen v. Rosenstern in Wolfenbüttel.

Eine Umstrukturierung bahnte sich an. Der bekannte Natur- und Heimatdichter Hermann Löns (1866-1914) ahnte bereits, was aus Wathlingen werden würde. Er schrieb in seinen ab 1910 zu Papier gebrachten Jagdgeschichten: „So wie es jetzt ist, ist es schöner, als wenn zischende Dampfwolken aus heißen Röhren durch die Wipfel seiner Eichen flattern und schwarze Rauchströme aus roten Schloten um die Kronen seiner Pappeln fliegen; seine stillen Sonntage werden dann verschwunden sein, findet der Diamantbohrer Kali oder die Pumpe Öl, diese Sonntage, an denen die Menschen still und zufrieden vor den Türen sitzen und den Schwalben zuhören, die zwitschernd um die Giebel fahren, dem Kuckuck, der im Holze läutet, den Störchen, die bei ihren Nestern klappern, und den Reihern nachsehen, die trägen Fluges zur Fuhse und Aller fliegen.“

Der Zuzug von Fremden aufgrund des Kalibergbaus war in den Jahren bis 1910 so stark gewesen, dass sich die Einwohnerzahl seit 1900 verdoppelt hatte und jetzt 1466 betrug. [1] In der gleichen Zeit trat fast eine Verdoppelung der Schülerzahl ein. Der 1909 begonnene Schulneubau war noch nicht fertig gestellt, man musste daher vorübergehend eine Klasse im Gärtnerschen Saal (dem späteren „Wathlinger Krug“) unterbringen. Am 4. April 1910 wurde die neue Schule fertig. In dem Jahr wurde, wie Chronist Jürgen Gedicke berichtet, [2] eine vierte Lehrerstelle in Wathlingen errichtet.

Im Gründungsjahr des damals noch als Männer-Turnverein Vater Jahn bezeichneten Vereins war der Schachtbau vollendet und damit das Schicksal Wathlingens gesichert. Die Arbeiten an dem Schacht, der zweimal durch Wassereinbrüche „versoffen“ war, waren gesichert, und 1911 konnte der Versand der Kalisalze beginnen, die ihren Weg aus dem bis dahin unbekannten Heidedorf in alle Erdteile nahmen. Die Zeit der geregelten Arbeit des Werks war angebrochen, und Wathlingen war im Begriff, den Wandel zum „Industriedorf“ zu vollziehen. [3]

Schulrat Professor Dr. Heinrich Pröve (1892-1967) nannte den Männerturnverein in seinem Standardwerk von 1925, „Wathlingen – Geschichte eines niedersächsischen Dorfes“, nicht. Pröve mag es damals aber auch eher um die Darstellung der Dorfentwicklung als um eine chronologische Darstellung gegangen sein. Dabei hatte der Männerturnverein Vater Jahn damals bereits 15 Jahre „auf dem Buckel“. Über 1910 schrieb er im Anhang zu seinem Buch (Zeittafel): „Erste Förderung von Kali.“

Dass unter den damals hier zahlreich zugewanderten Fremden sich junge und sportbegeisterte Männer fanden, die bereit waren, sich tätig für die Ertüchtigung der Jugend einzusetzen, ist einer der guten Einflüsse, die der wirtschaftliche Umschwung mit sich brachte. Das Wollen dieser Männer fand bei der heimischen Jugend Widerhall, und nach kurzer Zeit und Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten konnte der Verein durch eifrige Arbeit in seiner stattlichen Turnerriege von dem Wert des Turnens überzeugen und damit den besten Grund für seine weitere Entwicklung legen.

Selten scheint ein Verein allerdings ein so turbulentes Gründungsjahr erlebt zu haben wie der Turnverein in Wathlingen. Eine Folge waren offensichtlich widersprüchliche Angaben über das Gründungsdatum und die Namen der Mitbegründer. Zwar sprechen die Protokolle, die bereits seit dem 14. Juni 1910 vorliegen, sowie die Mitgliederliste von 1910 eine deutliche Sprache, dennoch war der Vorstand ein Jahr später der Meinung, er müsse noch einmal eine gesonderte Sichtweise über die Ereignisse vor und nach der Vereinsgründung zu Papier bringen und vorne ins alte Protokollbuch einzukleben. Es ist denkbar, dass das ehrenwerte Buch damals kurzzeitig nicht zur Verfügung gestanden hat. Da heißt es zunächst:

Unter schwierigen Umständen gelang es, in Wathlingen im Jahre 1910 einen Turnverein zu gründen, und sollen nachstehende Zeilen für spätere Zeiten etwas Festliegendes über die Gründung sein.

Ende Mai oder Anfang Juni wurde durch Aushang bekannt gegeben, die Gründung des Turnvereins in der Gärtner’schen Gastwirtschaft vorzunehmen, und waren, nachdem später Erkundigungen von Hollerung, Bosse, Lütjens, eingezogen wurden, etwa 10 Mann bei der Gründung zugegen. Wer die eigentlichen Gründer waren, läßt sich nicht feststellen, da keine Protokolle geführt worden sind. So viel sich feststellen läßt, fungierte ein gewisser Ahlborn als Turnwart, Schriftwart, Vorsitzender und Kassierer, bis er sich nach ca. 2 Monaten mit dem Kassenbestande des Vereins fort machte.

Nach dem losen Blatt mit den Geldbewegungen in der Vereinskasse von 1910 hatte der junge Turnverein aber 22 Gründer, und zwar den Maler Ernst Daugstrup, den Dreher Otto Wenzel, die Kaufmänner Georg Hollerung und Otto Bosse, die Schlosser Johannes Schmidt und Paul Packebusch, den Maler Adolf Klingemann, die Arbeiter Friedrich Krenzmann, Ernst Nebig, Heinrich Wendt und August Gakenholz, Zimmermann Heinrich Sander I, Schmiedelehrling Georg Schlote, Bergpraktikant Friedrich Feder, die Arbeiter Fritz Wendt und F. Montag, den Bauunternehmer Heinrich Sander, den Maurer Adolf Kamehl, den Schmied Hermann Ruch, Otto Kruse (ohne Beruf), den Arbeiter Heinrich Hage und – in der Liste nicht erwähnt (laufende Nummer 1 frei bleibend) – jenen Ahlborn, der diverse Vorstandsposten in sich vereinigt haben soll.

Daraus ist ersichtlich, dass von Anfang an auch Arbeiter vom Schacht im Verein turnten. Zum Turnen stand dem Verein ein Raum in der Gastwirtschaft von Vereinswirt Heinrich Gärtner zur Verfügung. Draußen wurde ebenfalls von Anfang an geturnt, zuerst allerdings nur auf dem Grundstück „Am Bohlgarten“. Die Außenanlagen waren, wie es scheint, vor allem der Jugend vorbehalten.

Entgegen den oben angeführten Wahrnehmungen wurde im Verein sorgfältig Protokoll geführt. Das alte Protokollbuch im Format 20,5 mal 32 Zentimeter aus dem Hause Edler & Krische in Hannover beginnt mit einem aufgedruckten „Mit Gott“ im Einband. Bereits das Protokoll der Versammlung vom 14. Juni 1910 ist niedergeschrieben. Hier finden wir den Hinweis auf die Vereinsgründung am 1. Juni 1910. Von jenem Ahlborn ist nicht die Rede. Die Vorstandsposten wurden provisorisch ausgeführt; so lagen der Vorsitz zurzeit kommissarisch in den Händen von Otto Wenzel und die Protokollführung in den Händen von Otto Bosse:

Nachdem am 1. Juni 1910 der Männer-Turnverein Vater Jahn, Wathlingen, ins Leben gerufen wurde, fand die zweite Versammlung am 14. Juni statt, in welcher über nachstehendes verhandelt wurde:
Punkt I. Aufnahmegebühr.
Diese wurde für Turner und Turnfreunde auf M. 1,00, und für Zöglinge auf 50 Pf. festgesetzt.
Punkt II. Monatsbeitrag.
Für Turner und Turnfreunde beträgt dieser M. 0,50 und für Zöglinge M. 0,25.
Besondere Beratungen fanden nicht statt.
Otto Bosse. Otto Wenzel

Im Juli 1910 traten dem Verein drei weitere Mitglieder bei, und zwar der Kaufmann Albert Brüning, Schlachter Karl Brauckmann und der beitragsfreie Vereinsbote Fritz Nebig.

Das zunächst lose geführte Kassenbuch gibt die Eingänge der Mitgliedsbeiträge im Juli 1910 von gerade einmal zwölf Personen preis, und zwar in Höhe von 5,35 Mark (Georg Schlote gab 25 Pfennig, Gastwirt Heinrich Gärtner war noch nicht Mitglied, gab aber schon einmal 10 Pfennig an die Kasse). Aufnahmegebühren waren gerade einmal in Gesamthöhe von 4,50 Mark zu Buche geschlagen.

Die nicht verbuchten Aufnahmegebühren der übrigen 20 Turner, Turnfreunde und Zöglinge finden die Begründung vielleicht in der Tatsache, dass just nicht nur der Kassierer, sondern mit ihm auch die Kasse verzogen war. Im oben zitierten Rückblick heißt es dazu: „Durch diese Unterschlagung des Ahlborn erlitt der in den ersten Stadien stehende Verein eine größere Schräppe, da das Geld durch Vorgehen des in der [Mitgliederversammlung] am 31. Juli 1910 gewählten Vorstandes auch nicht zurückgezahlt wurde.“

Auch davon findet sich kein Wort im Protokoll. Ahlborn war am Ende gar nicht spurlos verschwunden und stand mit dem Vorsitzenden in Kontakt, wie am Rande in einem späteren Protokoll zu lesen ist.

Anmerkungen:

[1] Angaben nach der Schulchronik, Band II. Demnach lebten 1900 in Wathlingen 706, 1905 949, 1910 1466 und 1911 1759 Personen.
[2] Gedicke, Jürgen, Wathlingen – Geschichte eines niedersächsischen Dorfes, Band II, Wathlingen 1987, S. 63.
[3] Schulchronik, Band II, S. 16. Vgl. Blazek, Matthias, Das Wathlinger Kaliwerk, Heft 5 der Schriftenreihe Beiträge zur Geschichte der Gemeinde Wathlingen, Wathlingen 2006.

Blazek 100 Jahre VfL Wathlingen

39 Männer vor der Gaststätte Zur Linde: Der Verein feierte 1935 sein 25-jähriges Bestehen. Repro: Abakus IT

 

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