Der Stiefvater soll ihn in den Tod getrieben haben

Fritz Haarmanns Halbbruder Karl kommt unter ungeklärten Umständen in Hannover ums Leben

Über Haarmanns Halbbruder Karl Claudius ist kaum etwas bekannt. Dennoch lässt sich einiges aufgrund der psychiatrischen Gespräche mit dem 24-fachen Serienmörder Fritz Haarmann (1879–1925) im Juli/August 1924 in Hannover und Göttingen recherchieren. Karl Claudius, geboren um 1858 in Willershausen, wo auch seine Mutter Johanne gebürtig herstammte, wird in den hannoverschen Adressbüchern nicht genannt. Die Familie, Stiefvater Friedrich Harmann [sic!], Mutter Johanne, geb. Claudius, und die sieben Kinder, war 1879 von Göttingen nach Hannover gezogen, wo sie eine Wohnung an der Werderstraße unweit des Conti-Werks bezog und wo alsbald der jüngste Bruder Fritz, der spätere Serienmörder, zur Welt kam.

Hannoverscher Courier, 19. April 1891

Schon frühzeitig in Konflikt mit der Polizei: Fritz Haarmann und sein Halbbruder Carl Claudius. Hannoverscher Courier, 19. April 1891.

Völlig neu und bisweilen unbekannt ist, dass Karl Claudius gen. Haarmann 1891 aktenkundig geworden ist, wie die Gerichtszeitung am 15. April 1891, abgedruckt im „Hannoverschen Courier“ vom 19. April 1891, mitteilt (Landgericht, Strafkammer I): „Unter Anklage des groben Unfugs, der Beleidigung und des Widerstands stehen a. der Tischlergeselle Karl Claudius gen. Haarmann, b. der Tischlergeselle Adolf Herrmann, c. der Hilfsmonteur Friedrich Haarmann, d. der Schriftsetzer Adolf Lackemann, gen. Brandmüller, und e. der Kesselschmied Heinrich Mädge. Sie sollen überlaut sich auf dem Engelbostelerdamm benommen haben, die Wächter Wegener und Barnstorf haben deshalb sich veranlaßt gesehen, sie zur Ruhe zu verweisen, es ist darüber zum Wortwechsel und zu Thätlichkeiten gekommen, in welchen Claudius von seinem Stocke, der Wächter Wegener von seiner Waffe Gebrauch gemacht. Das Verhalten der Wächter wird als nicht ganz correct angesehen, und es erfolgt die Freisprechung der Angeklagten von der Anklage des groben Unfugs und des Widerstandes; nur Claudius wird wegen Beleidigung und, wie der Gerichtshof annimmt, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gefängnißstrafe für die Dauer von drei Wochen verurtheilt.“

In den im Sommer 1924 von Hannover nach Göttingen verlagerten psychiatrischen Gesprächen Haarmanns mit Professor Dr. Ernst Schultze kam am 8. September 1924 die Sprache auf den Halbbruder Karl. Dabei wurden schwerwiegende Anschuldigungen gegen den Vater erhoben. Haarmann beschuldigte seinen Vater, den Halbbruder erschlagen zu haben.

Nebenher fragte Schultze: „3. Bruder Karl?“ Fritz Haarmann bestätigte. „Ich war damals so 12 Jahr – der mußte schon 30 oder 35 gewesen sein. Mein Bruder und ich haben uns immer gern gehabt – den hat Mutter mit in die Ehe gebracht. Sie ist verlobt gewesen, der Verlobte ist dann im Kriege gefallen, ganz früher.“ Schultze bohrte, das war offensichtlich im Deutschen Krieg 1866 gewesen. Die Mutter sei „echt Hannoversch“ gewesen, der Großvater in hannoverschen Zeiten Rittmeister, bei ihren Erinnerungen habe die Mutter immer geweint. „Die haben da ihr ganzes Vermögen verloren.“

Und dann wurde Haarmann konkret:

„Wie sie dann geheiratet hat [Anm.: 12. Dezember 1868 in Göttingen], den Alten – den Vagabund – da hat sie den Jungen aus dem Hause geben müssen, den wollte er nicht sehen, er war wohl schon 12 Jahr alt. Mit einem Mal hieß es, das wäre mein Bruder Karl. Mutter hat mir bis dahin auch nichts davon erzählt. Der kam dann öfters zu Besuch zu uns, der brachte uns was Schönes mit, und da sagte er zu mir, er wäre mein Bruder, ich sagte: So? Da habe ich mich gefreut. Da kam er immer, wenn der Alte nicht da war. Da hatten wir doch so‘n großen Garten – da stehen jetzt mindestens 40 Häuser drauf und da kam er so – das war auf einen Sonntag Morgen, da lag mein Vater so am Fenster, weshalb, weiß ich nicht. Da sagte er, mein Stiefbruder: Pfui, sagte er, du sollst dich was schämen, das vergesse ich dir nie. Du bist ein Schurke, sagte Karl, und da sagte er, mein Alter, Karl, warte man, und drohte mit der rechten Faust und da ging Karl weg. Meine Mutter bebte und zitterte dann immer gleich, die war so klein und zierlich, ’ne hübsche Frau war aber meine Mutter – und da war es gut. Dann haben wir gegessen und da war Karl verschwunden, am selben Tag verschwunden. Nachher haben sie ihn aus der Klippmühle gezogen, aus der Leine.“

„Wie hieß Karl mit Familienname?“

„Karl Claudius. – da, wie sie ihn gefunden haben, saßen wir beim Essen. Meine Mutter wußte wohl, daß er verschwunden war und sagte zu dem Alten [hob dabei drohend den Zeigefinger der linken Hand] – der Alte hatte vor Mutter immer Respekt, weil sie so reell war. Der Alte sagte nie was, wenn meine Mutter ihm was sagte. – Wie sie ihn nun den Tag gefunden haben, saßen wir gerade so am kleinen Tisch, wir Kinder, und die Erwachsenen saßen auch für sich – da stand sie wie so‘ne Siegesgöttin. – Den hast du ermordet, den hast du auf dem Gewissen und da hat sie geweint. Da hat er nichts gesagt. Mutter ist dann rausgegangen. Das hat sie ihm öfter gesagt, auch uns Kinder. – Karl hat er ermordet – ja.“ Das schloss Haarmann aus dem, was die Mutter gesagt habe.

„Was Sie bisher gesagt haben, sind aber noch keine Beweise.“

„Mein Bruder Karl mochte den Alten auch nicht leiden, der sagte ihm immer die Wahrheit, das konnte er nicht vertragen.“

„Woraus schließen Sie, daß er ihn umgebracht hat?“

„Vater und Mutter schliefen früher immer in einer Kammer, jeder für sich in einem Bette und da hat er ihr wohl ein Geständnis gemacht – nachdem sie ihm wohl Vorhaltungen gemacht hatte, da hat er ihr sein Geständnis abgelegt, das hat sie uns Kindern mal erzählt – das ist schon so lange her. Sie haben ihn gefunden, da war ein Ohr ab und der Kopf kaputt geschlagen, und dann haben sie ihn in die Leine geschmissen.“

„Sie meinen, der Alte hätte ihn erschlagen?“

„Mutter hat Nachforschungen gehalten und dann ist rausgekommen, daß Karl vorher in der Wirtschaft von Ehring gewesen ist, da ist er betrunken gemacht worden – da ist der Alte auch da gewesenen da hat der Alte wohl die andern veranlaßt, daß die Karl betrunken machten und dann haben sie ihn rausgeschickt zur Mühle, da ist er dann gefunden.“

„Hat der Alte ihn allein erschlagen?“

„Das weiß ich nicht, da müssen Sie mal meine Geschwister fragen. Die Mutter hat ihm nachher ein eigenes Grab machen lassen und einen schönen Grabstein, da wollte er das wieder abreißen, das sollte nicht sein, das wollte er nicht haben, daß Mutter Geld für den ausgab, da ist sie in die Nacht geflüchtet in unser Kinderzimmer, weil er ihr zu Leibe wollte.“

„Ist Karl seciert worden?“

„Bei uns zu Hause nicht.“

„Sie wissen doch, was secieren ist?“

[Auf Vorhalt] „Ja, so wie ich das gemacht habe.“

„War eine gerichtliche Untersuchung, wie die Leiche gefunden ist?“

„Das weiß ich nicht, ich war noch zu klein. – Mutter tat das nicht – wegen euch Kinder tue ich das nicht, sagte sie immer.“

Die Gastwirtschaft von Albert Ehring hatte die Adresse Engelbosteler Damm 80.

Über Leichenfunde in der Leine wurde in den 1890er Jahren mehrmals im „Hannoverschen Courier“ berichtet, so beispielsweise 1892, 1894 und 1895.

Hannoverscher Courier, 12. Juni 1892:

„(Gefundene Leiche.) Am Freitag trieb in der Leine in der Nähe von Justus’ Garten eine männliche, anscheinend dem Arbeiterstande angehörende Leiche ans Ufer, welche auf polizeiliche Veranlassung ins gerichtliche Todtenhaus geschafft worden ist. Der Unbekannte mag etwa 30 Jahre alt sein, ist 1,65 Meter groß, untersetzt, hat dunkelblonde Haare, sowie kleinen blonden Schnurrbart; bekleidet war er mit schwarz-brauncarrirtem Jacket, schwarz- und graugestreiftem Beinkleide, grauwollenen Strümpfen, Zugstiefeln und roth-, blau- und graugestreiftem Arbeitshemd. In den Taschen fand sich nur ein Messer, Meerschaumcigarrenspitze, Uhrkapsel mit Kette, Streichholzbüchse und ein rothbaumwollenes Taschentuch mit gelber Kante vor. Die Leiche ist schon in Verwesung übergegangen und muß schon mindestens 8 Tage im Wasser gelegen haben. Spuren einer Gewaltthätigkeit waren an ihr nicht zu finden.“

Hannoverscher Courier, 26. Juli 1894:

„(Unbekannte Leiche.) Eine am Sonnabend Abend in Höhe der städtischen Badeanstalt an der Friedrichstraße aus der Leine gelandete männliche Leiche ist bisher nicht recognoscirt worden. Der Ertrunkene ist 36—40 Jahre alt, ca. 1,70 m groß, hat hellblondes Haar, dickes rundes Gesicht mit starker Nase und röthlichem Schnurrbart und ist bekleidet mit dunklem Jacket, ebensolchem Beinkleid, blaugestreiftem Hemd, wollenem weißgestreiftem Unterhemd und Schaftstiefeln. Papiere sind bei der Leiche nicht vorgefunden worden. Nachrichten, welche zur Recognoscirung derselben beitragen können, werden von der Polizeidirection entgegengenommen.“

Hannoverscher Courier, 24. April 1895:

„(Aufgefundene Leiche.) Gestern früh 7 Uhr wurde in der Leine an der Klickmühle die Leiche einer unbekannten männlichen Person aufgefunden. Dieselbe ist ins gerichtliche Todtenhaus geschafft worden.“

Dieser Unglücksfall scheint Karl Claudius zu betreffen.

Literaturempfehlung: Matthias Blazek: Haarmann und Grans. Der Fall, die Beteiligten und die Presseberichterstattung. ibidem-Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-89821-967-9.

 

zurück zur Übersicht