Die antisemitischen Parteien, die sich in ihrer Vielzahl oft spalteten und neu zusammenschlossen, erreichten einen Höhepunkt
Die Reichstagswahl 1893 war die Wahl zum 9. Deutschen Reichstag. Sie fand am 15. Juni 1893 statt. Die Wahl war notwendig geworden, weil der Reichstag infolge Ablehnung der Militärvorlage aufgelöst worden war.
Von Matthias Blazek
Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 Prozent und damit unwesentlich höher als bei der Reichstagswahl am 20. Februar 1890 (71,6 Prozent). Die Nationalliberale Partei hatte als Kandidaten den Ökonomierat Gustav Rothbarth in Triangel bei Gifhorn (heute Gemeinde Sassenburg) aufgestellt. Rothbarts Kandidatur wurde vom Bund der Landwirte und den Konservativen unterstützt. Die Konservativen und Nationalliberalen bildeten 1893 in zahlreichen Wahlkreisen ein Kartell (in dem immer je eine Partei auf einen eigenen Kandidaten verzichtete und den der anderen unterstützte); so auch hier.
Die Welfen kämpften für Landschaftsrat George Graf von der Decken-Ringelheim (05.10.1836-19.08.1898). Er war seit 1890 Parteiführer (= Vorsitzender des Direktoriums des hannoverschen Wahlvereins, so die Eigenbezeichnung) der Deutsch-Hannoverschen Partei und Mitglied des Reichstags von 1890 bis 1898. Am 23. September 1893 wurde er im Grundbuch von Söderhof als Besitzer genannt, und am 29. August 1898, also zehn Tage nach seinem Tod, erfolgte die Übertragung auf Walther von der Decken (1868 bis 1941).
Außerdem standen im 14. Hannoverschen Reichstags-Wahlkreis (Celle) 1893 zur Wahl: Zimmermann Friedrich Warnke in Celle (Sozialdemokraten, ein „Vorkämpfer der Arbeitersache“), der Premierlieutenant a. D. und Schriftsteller Max Liebermann von Sonnenberg aus Charlottenburg (Antisemitische Deutschsoziale Partei) und der liberale Eugen Richter aus Hagen-Eilpe (Freisinnige Volkspartei).
Rothbarth sprach sich auf einer Wahlversammlung für den Antrag Huene aus und erklärte des Weiteren, dass er die „Gesetze betreffs der Gewerbefreiheit und die Sozialgesetzgebung für reformbedürftig“ hielte. Obwohl Rothbarth das Programm des Bundes der Landwirte nicht in allen Teilen akzeptieren wollte, „da westdeutsche Landwirte andere Interessen als die ostdeutschen“ hätten, empfahl auch der Agrarierverband die Wahl des Nationalliberalen.
Das Wahlresultat der Reichstagswahl wurde in der „Celleschen Zeitung“ vom 16. Juni 1893 abgedruckt.
Beispiele: In Adelheidsdorf wählten 21 Ökonomierat Rothbarth (Bund der Landwirte, 20.07.1842-20.11.1914), neun von der Decken-Ringelheim und zwei Warnke. Liebermann von Sonnenberg (21.08.1848-18.09.1911) und Eugen Richter (30.07.1838-10.03.1906) wählte hier niemand. In Helmerkamp wählten 24 Rothbarth, sechs von der Decken und einer Liebermann von Sonnenberg. In Wathlingen entfielen 85 Stimmen auf Rothbarth, 51 auf von der Decken, zwei auf Warnke, eine auf Liebermann von Sonnenberg und zwei auf Richter.
In den Landorten des Kreises Burgdorf wählten 1733 Rothbarth, 1421 von der Decken, 628 Warnke, 124 Liebermann von Sonnenberg und 33 Richter. In der Stadt Gifhorn wählten 248 Rothbarth, 184 von der Decken, 82 Warnke und 26 Liebermann von Sonnenberg (Richter aber niemand). In den Landorten des Kreises Gifhorn: 353 Rothbarth, 310 von der Decken, 53 Warnke, 22 Liebermann von Sonnenberg und drei Richter.
Von der Decken gelang es im Raum Celle-Burgdorf-Gifhorn-Peine hier und da, mehr Stimmen um sich zu vereinen als Gustav Rothbarth. Liebermann und Richter gelang dies nirgends, während Friedrich Warnke in der Stadt Peine und auch in den Celler Bezirken Altenhäusen, Hehlenvorstadt und Altenceller Vorstadt gleich mit großem Abstand als Sieger aus der Wahl hervorging.
In der „Celleschen Zeitung“ hieß es:
Der gestrige Wahltag hat für unsere Stadt einen ruhigen Verlauf genommen. Es wurden insgesammt in den hiesigen Wahllokalen 2571 gültige Stimmen abgegeben. 171 weniger als bei der Hauptwahl 1890. Die Feststellung des Resultates in der Stadt zog sich etwas in die Länge, sodaß einige Radfahrer mit den Resultaten aus den Landorten eher eintrafen, als überhaupt in den verschiedenen Bureaus eine Meldung aus den städtischen Bezirken eingegangen war. Die Einführung des Einholens der ländlichen Wahlresultate durch die Radfahrer hat sich vortrefflich bewährt, dadurch ist es möglich gewesen, daß bereits gestern eine stattliche Zahl von Wahlresultaten zur Stelle war, die einen ziemlichen Ueberblick gewähren konnten. Den Radfahrern unserer Stadt gebührt der Dank aller Interessenten, danken möchten wir aber auch den Wahlvorstehern aus dem Landkreise, welche den Radfahrern in jeder Weise entgegengekommen sind.
Lehrer Christoph Baden berichtete in der Ahnsbecker Schulchronik über politische Geschehnisse im Deutschen Reich, ein Hinweis auf das Interesse der Bevölkerung an der Politik. Er fügte hinzu: „Bei der Stichwahl am 24. Juni zwischen Rothbarth und v.d. Decken wurden 111 Stimmen abgegeben, und zwar 84 für Rothbarth und 27 für v.d. Decken. – Rothbarth wird gewählt.“
Bei den Reichstagswahlen 1893 wurde das Mehrheitswahlrecht verwendet, und die Provinz Hannover war dafür in insgesamt 19 Wahlkreise eingeteilt, in denen jeweils ein Abgeordneter gewählt wurde. Damals konnte eine Person in so vielen Wahlkreisen kandidieren, wie sie wollte. Daher stellten diejenigen Parteien, die für ihre Kandidaten in einem Wahlkreis von vornherein keine Erfolgschancen sahen, die aber demonstrieren wollten, dass sie überhaupt von Wählern gewählt wurden, in solch einem Wahlkreis oft einen ihrer bekannteren Politiker auf. Bei den Kandidaten Liebermann von Sonnenberg und Richter handelte es sich nach Angaben von Valentin Schröder von der Universität Potsdam um so genannte „Zählkandidaturen“, die in der Regel keinen direkten Bezug zum spezifischen Wahlkreis hatten.
Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 16 Mandate. Bei den Parlamentswahlen im Jahre 1893 gelang es allein der antisemitischen „Deutschen Reform-Partei“, mit zwölf Abgeordneten in den Deutschen Reichstag einzuziehen. Die insgesamt 16 antisemitischen Abgeordneten blieben ein dauerhafter Bestandteil der parlamentarischen Szene im Deutschen Reich, obwohl sie nie fähig waren, sich politisch zu einigen.
Anmerkungen:
Der Deutsche Reichstag in Berlin nahm am 15. Juli 1893 eine Gesetzesvorlage an, mit der die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres von 512000 auf 585000 Mann (ohne Einjährig-Freiwillige) stieg. Die Dienstpflicht verkürzte sich dabei von drei aus zwei Jahre.
Literatur:
Margitta Schuermann und andere: 125 Jahre SPD in Celle – „Wer weiß, wohin der Tunnel am Ende noch führt“, Celle 1994
Leo Haupts: Das kaiserliche Deutschland – Wirtschaft, Gesellschaft, Politisches System (Quellen zur Geschichte und Politik), Stuttgart 1987
Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918, Erster Halbband, Düsseldorf 2007, S. 648 ff.
Thomas Weidemann: Politischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich – Der Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg und der nordhessische Wahlkreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain, in: Heimatvertriebene Nachbarn. Beiträge zur Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain, hrsg. von Hartwig Bambey, Verlag Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis e.V. u. a., Schwalmstadt-Treysa 1993, S. 175
Reichstagswahlen 1867–1918, Ergebnisse reichsweit:
Wahlen in Deutschland
Die Kandidaten:
Eugen Richter – Manchesterliberaler deutscher Politiker und Publizist
Max Liebermann von Sonnenberg – Politiker und Publizist
George Graf von der Decken-Ringelheim – MdR 1890-1898
George Graf von der Decken-Ringelheim – Familiäres
Foto links oben: Max Liebermann von Sonnenberg. Repro: Blazek
rechts unten: Eugen Richter. Repro: Blazek